top of page

Editorial: Mündiges Volk oder freiwilliger Untertan?



Herrscher und Untertanen gab es in der Geschichte schon viele, sei es in der Epoche der Sklavenhalter, im Feudalsystem oder auch heute im Kapitalismus. Auch in der Form der Ausübung dieser Herrschaftsverhältnisse unterschieden sie sich. Was ihnen jedoch meist gemeinsam war, ist eine gewisse Bewusstheit der Untertanen über ihre unterdrückte und untergeordnete Stellung. Heute soll in vielerlei Aspekten etwas in dieser Form Neues eingeführt werden: der unmündige freiwillige Untertan.


Beginnen wir mit einem der größten medienpolitischen Skandale seit Langem: dem Ende der Wiener Zeitung. Durch einen Beschluss der schwarz-grünen Bundesregierung wird die älteste noch erscheinende Tageszeitung der Welt (gegründet 1703) mit Ende diesen Monat Juni 2023 dem Erdboden gleichgemacht und ein österreichisches Kulturgut das Seinesgleichen sucht wegen „Umstrukturierungsmaßnahmen“ künftig nur mehr in den Archiven zu sehen sein. Die Wiener Zeitung hat nicht nur eine lange Geschichte, sondern spiegelt in ihrer 300-jährigen Existenz zahlreiche der größten Ereignisse der österreichischen Geschichte wider, mit vielen war sie direkt verbunden. So schlug sich die Zeitung in der bürgerlichen Revolution 1848 auf die Seite der Revolutionäre und ließ sogar kurzzeitig den kaiserlichen Adler am Zeitungskopf weg. In den 1920er Jahren ließ Bundeskanzler Ignaz Seipel den Chefradakteur wissen, er soll gefälligst „seinen Ehrgeiz bändigen“, denn ein größerer Erfolg der Zeitung war unerwünscht. Auch kulturell ist die Wiener Zeitung in Österreich einzigartig innerhalb der bürgerlichen Medien: das erste Feuilleton Österreichs wurde in der Wiener Zeitung verfasst. Seit dem und bis heute ist der Feuilleton-Teil dieser Zeitung hervorzuheben aufgrund des demokratischen Charakters: nicht nur werden verschiedene Standpunkte betrachtet, sondern es werden historische und kulturelle Fragen auch unabhängig von den Schlagzeilen und Hetznachrichten behandelt, Kultur und Wissenschaft als eigenständige Disziplin. So etwas ist heute von den Herrschenden natürlich nicht gewünscht: Mündigkeit durch Debatte, inhaltliche Auseinandersetzungen zu gesellschaftlichen und politischen Fragen,... Die Erklärung für das Ende der Wiener Zeitung fasste die Grüne Mediensprecherin Eva Blimlinger zusammen: „Print ist tot“ und man müsse auf digitale Medien setzen, auf Kurznachrichten, Videoformate usw… Für das mündige Volk ist das ein Skandal. Der freiwillige Untertan findet das alles nicht so schlimm, denn er weiß nicht um seine Kultur, seine Geschichte und demokratischen Rechte. Er findet digital „praktisch“ und nachvollziehbar. Er ist ein moralistischer Knecht.


Auch in der Auseinandersetzung rund um den neuen SPÖ-Parteivorsitzenden ist der Aspekt des freiwilligen Untertans in der pseudo-liberalen Gesellschaft nicht zu unterschätzen. Der Rahmen in dem sich die ganze Abstimmungsprozedur entwickelt hat ist sowohl eine tiefe politische Krise der Herrschenden, als auch der Sozialdemokratie als politische Partei. Der neue Parteivorsitzende Babler gab sich in der ganzen Wahlperiode als „Erneuerer“, „wirklicher Sozialdemokrat“ und in schwankenden Momenten auch als „Marxist“. Nachdem er sich ebenso von wirklich allen den Herrschenden unliebsamen Positionen distanziert hat (bspw. Schwenk vom EU-Kritiker zum EU-Fan) wurde er durch die Unterstützung der Wiener SPÖ und der Gewerkschaften ins Amt gehievt. So viele „radikale“ Phrasen er auch benützen mag – nun ist er vom Sanktus seiner neuen „Freunde“ abhängig. So viel war es den SPÖ-Funktionären in Wien und den Gewerkschaften wert Doskozil zu verhindern, denn dieser hätte zwar weniger radikale Phrasen, doch mehr Machtverschiebung innerhalb der Partei hervorgebracht. Die politische Krise nach innen, und der zunehmende Druck von Seiten EU, USA und NATO gegenüber Österreich bringt hervor, dass jemand im Amt ist der zwar scheinbar „volksnahe“ ist, um einen Teil der Massen zu besänftigen, doch brav und opportunistisch genug ist, die Interessen der Herrschenden auch dienlich umzusetzen. Diese soziale Rhetorik bei gleichzeitiger Beibehaltung der alten Machtstrukturen wird jedoch nur zu weiteren Zerwürfnissen und Unzufriedenheit führen. Der freiwillige Untertan ist „ergriffen“, dass jemand der sich „so viel sagen traut“ wie Babler nun Parteivorsitzender ist. Das mündige Volk erkennt, dass die Phrase oft nur ein neues Kleid des Alten ist und weiß, dass „Taten oft mehr sagen, als Tausend Worte“.


Ein moralistisches Schlagwort der heutigen Herrscher ist der Verzicht. Was lange Zeit der Job der katholischen Kirche war, zum Verzicht zu animieren, soll heute unter neuen Vorwänden eingeführt werden. Wir sollen Strom sparen für den Krieg. Wir sollen glücklich sein, dass wir weniger Geld haben um in den Urlaub zu fahren, weil das verpestet das Klima. Wir sollen in kleinen Wohnungen leben, weil das ist „smart“ und „effizient“. Wir sollen auf ein kulturreiches Leben, schöne Architektur, Bücher, Zeitungen,… verzichten, denn das ist ein zu großer „Fußabdruck“ und außerdem dekadent. Dabei ist zu bedenken: der asketische Verzicht führt zum unmündigen Volk. Die Aneignung der kulturellen Errungenschaften, von gesunden, geistreichen und lebenswerten Wohnungen, über Kunst und Literatur, bis zu sozialen und demokratischen Rechten ist Teil des Kampfes gegen den Untertanengeist. Der Wille zur Aneignung des Höchsten was die Gesellschaft hervorgebracht hat durch das Volk ist eine der Voraussetzungen, damit das Volk auch eigenständig handeln und sich vom Beherrschten zum Herrscher der Gesellschaft, zur politischen Macht emporringt. Und das ist die einzige Garantie die Gesellschaft auch im Sinne der Arbeiter und des Volkes zu bestimmen. Lassen wir uns all das nehmen und zum unmündigen freiwilligen Untertan degradieren, wird weiter über uns bestimmt und das Verhältnis von Herrscher und Beherrschten bleibt unverändert.






bottom of page