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Volkskämpfe und Entwicklungen nach dem Erdbeben in der Türkei/Nordkurdistan

Hier möchten wir einen uns zugesandten Gastbeitrag zu Entwicklungen nach dem folgenreichen Erdbeben in der Türkei veröffentlichen. Dieser Gastbeitrag widmet sich auch der aktuellen Wahlkampagne in der Türkei, den Kämpfen des Volkes und den Perspektiven der revolutionären Bewegung. (Redaktion Die Rote Fahne)


Volkskämpfe und Entwicklungen nach dem Erdbeben in der Türkei/Nordkurdistan


Im vergangenen Monat ereignete sich in der Türkei und Nordkurdistan, insbesondere in Maraş, die schwerste Naturkatastrophe, die es bisher in dieser geografischen Region gab. Am 6. Februar wurde ein Erdbeben mit einer Erdbebenstärke von 7,7 gemessen. Nach ersten Feststellungen betraf das Erdbeben die Regionen Kahramanmaraş, Gaziantep, Şanlıurfa, Diyarbakır, Adana, Adıyaman, Osmaniye, Hatay, Kilis und Malatya, welche die Gebiete Nordkurdistans umfassen. Zwar handelt es sich um eine Naturkatastrophe schwersten Ausmaßes, die sogar die geographische Struktur der Region durch Verschiebung von Städten verändert hat, jedoch sind die Folgen zu großen Teilen Resultat der korrupten Wohnbaupolitik der Herrschenden in der Türkei. Trotz wohnbaulicher Standards wurde ein großer Teil der Wohnhäuser mit Materialien gebaut, die nicht erdbebensicher sind und bei Weitem den offiziellen vorgegebenen Standards nicht entsprechen. Dabei handelt sich vor allem um Bauten, die durch regierungsnahe Konzerne umgesetzt wurden. In zahlreichen Videos kann beobachtet werden, dass in Erdbebenregionen Häuser gebaut wurden, die zu einem Großteil aus Sand (!) bestehen.


Die kürzlich von Yunus Sezer, dem Leiter des 2009 (1) gegründeten Ministeriums für Katastrophen- und Notfallmanagement (AFAD), verkündete Zahl von 50.096 Toten und 107.204 Verletzten ist nicht nur die Spitze des Eisbergs bei diesem Erdbeben, sondern hat eine viel tiefere Bedeutung für die Massen, für die Zehntausenden von Werktätigen, die versuchen, sich am Leben zu halten. Der Tod von über 50.000 Menschen drückt die offiziellen Zahlen der Todesopfer aus, aber wenn man die unabhängigen Medienberichte aus den Erdbebengebieten analysiert, kann man im Wesentlichen feststellen, dass das Ausmaß der Katastrophe, das Ausmaß der Todesfälle viel größer ist.


Die herrschenden Klassen in der Türkei sind gezwungen sich innerhalb der Widersprüche zwischen den imperialistischen Mächten zu bewegen und nehmen dabei die Rolle des Kriegsanstifters in der Region ein. Sie spielen die Rolle eines lokalen und regionalen Kollaborateurs, hauptsächlich eines Lakaien in den Schachzügen, die sich im Kontext der Interessen zwischen USA/EU und der imperialistischen Allianz Russland/China entwickeln. Mit den Auswirkungen des Erdbebens und der dadurch ausgelösten Wut der Massen gegen den faschistischen türkischen Staat, sind die Widersprüche innerhalb der Regierungspartei „Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung“ (AKP) an der Spitze der türkischen Kompradorenbourgeoisie (2) in diesem Prozess noch deutlicher geworden. Die Ankündigung des Innenministers S. Soylu internationale Hilfe anzufordern, ohne dass der Präsident informiert war, das anschließende Eingreifen von Recep Tayyip Erdoğan in diese Angelegenheit und sein Versuch, die Minister aus dem Feld zu ziehen, zeigen, wie stark die Wirkung der Widersprüche innerhalb der herrschenden Clique in der aktuellen Situation ist.


Nach dem 6. Februar haben die Massen, hauptsächlich in Nordkurdistan, versucht, sich selbst zu organisieren. Insbesondere auch die Teile, die bei den letzten Wahlen für die AKP gestimmt haben, haben versucht, gemeinsam mit revolutionär-demokratischen Organisationen und Gruppen Organisationen zu bilden. Die Menschen kämpfen darum, ihr Leben und die grundlegenden Lebensbedürfnisse gemeinsam gegen die andauernden Angriffe des Staates zu sichern. Das ist der Beweis dafür, dass die Geschicke des Volkes, ihre Interessen und Bedürfnisse nur durch ihre eigene Organisation geschaffen und verteidigt werden können. Die Volkskomitees und Organisationen des Volkes, die sich in Maraş, Hatay, Adıyaman und Diyarbakır gebildet haben, sind wichtige Werkzeuge und Erfahrungen des Klassenkampfes und stellen ein Potential für den Kampf um die Neudemokratische Revolution im Land dar.


Die Völker Nordkurdistans und der Türkei zahlen nun die Rechnung für die landesverräterische Politik der herrschenden Clique in der Türkei, die auf Kosten von Tod und Elend der Bevölkerung zusätzliche Profite sichert. Jedoch hat das Volk eine bedeutende Tradition des Kampfes und des Widerstands. Im Rahmen dieses Prozesses versuchten die Herrschenden in der Türkei die Erdbebensituation und ihre Folgen in eine reaktionäre, faschistische Kampagne und Aggression gegen Migranten und Flüchtlinge umzuwandeln, indem sie faschistische Propaganda und Gruppen auf der Grundlage der türkisch-islamischen Synthese (3) aktivierte und die Angriffe auf die Massen durch zivile Faschisten organisierte. Die Solidarität der Massen in ihren selbst geschaffenen Organisationen machten diese Angriffe jedoch zunichte, die Flüchtlinge und Migranten wurden von der Bevölkerung im gemeinsamen Kampf verteidigt...


Mit der Verschärfung der politischen und wirtschaftlichen Krise der herrschenden Klasse in der Türkei, hat sich ein neuer Prozess entwickelt. Dieser Prozess zeigt die Form des Bündnisses der politischen Vertreter und Cliquen der Kompradorenbourgeoisie. Die AKP / MHP und die von ihr geführten faschistischen Organisationen als “Nationale Allianz” und der andere Flügel der Kompradorenbourgeoisie, die “Volksallianz” (CHP, IYI-Partei und andere), sind als ein Schachzug der Herrschenden geformt, um die aktuelle Krise durch Wahlen zu überwinden oder zumindest die Auswirkungen der Krise zu verringern.


Trotz aller Versuche des türkischen Staates die NEWROZ-Feiern in dieser Phase zu verhindern, wurde das Fest in den zentralen Metropolen gefeiert. NEWROZ, das innerhalb der Massen als Fest der „Einheit, des Widerstands und der Auferstehung des kurdischen Volkes gegen den Kolonialismus“ Bedeutung findet, wurde verteidigt und die Massen machten dabei keinen Schritt zurück.


Bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 14. Mai werden die Massen gezwungen sein, zwischen den Cliquen der „Volksallianz” und der „Nationalen Allianz” zu wählen. Die Pest oder Cholera wird den Massen erneut aufgezwungen werden. Kräfte wie zum Beispiel die „Kommunistische Partei der Türkei“ (TKP) haben sich de facto der Clique rund um die „Volksallianz“ (Millet-Ittifakı) angehängt bzw. unterstützen diese, welche im Wahlkampf vorhat, die türkisch-islamische Synthese noch reaktionärer neu zu gestalten. Die revolutionäre und kommunistische Bewegung und ihre Geschichte in der Türkei und Nordkurdistan haben jedoch eine historische und organisatorische Wirkung, welche innerhalb der Massen ein Bewusstsein gegen die parlamentarische Illusion geschaffen hat. Der jahrzehntelange Kampf der Arbeiterklasse, der unterdrückten Völker in der Türkei und Nordkurdistan hat bewiesen, dass nicht die „Wahlen“ der Herrschenden Veränderungen für das Volk bringen, sondern der revolutionäre Kampf. Insbesondere ist es der Kampf um den Prozess der „Neudemokratischen Revolution“, einer Revolution für die Herrschaft der unterdrückten Klassen, der sich in zahlreichen Kämpfen als siegreiche und richtige Perspektive erwiesen hat. Dieser Prozess findet seine Begründung in der Türkei durch den kommunistischen Führer Ibrahim Kaypakkaya. Ibrahim Kaypakkaya gab den revolutionären Kräften eine wichtige Lehre in ihrem Verhältnis zu den herrschenden Klassen, welche das Volk nicht nur vor schweren Fehlern bewahren, sondern ihnen auch im Kampf um die Befreiung hilfreich sein wird:


Für eine kommunistische Bewegung kommt es natürlich nicht in Frage, eine der beiden reaktionären Cliquen zu bevorzugen. Die kommunistische Bewegung betrachtet beide als Feinde; sie kämpft dafür, beide zu stürzen; aber sie verschließt nicht die Augen vor dem Kampf zwischen ihnen; um für sich selbst den größten Nutzen aus diesem Kampf zu ziehen, bestimmt sie ihre Stellung zueinander, isoliert die reaktionärste, richtet ihre ersten und heftigsten Angriffe gegen sie, wobei sie es nicht versäumt, das Wesen der anderen reaktionären Clique zu enthüllen und ihre Feindschaft gegen beide fest aufrecht zu erhalten. Sie weiß, dass dieser Kampf zwischen den herrschenden Klassen jederzeit in eine Vereinigung gegen das Volk umschlagen kann, und dass die reaktionärste Clique von heute, morgen durch eine andere ersetzt werden kann.“ (İbrahim Kaypakkaya, Ausgewählte Schriften, 1972)






(1) Das Ministerium für Katastrophen- und Notfallmangement wurde 2009 als Propagandainstrument der Regierung gegründet. In Bezugnahme auf das schwere Erdbeben 1999, bei dem über 20.000 Menschen gestorben sind, wurde versprochen, dass kein Erdbeben mehr so viele Menschen ohne Unterkunft zurücklassen werden würde. „Kein Mensch ohne Unterkunft“ – so wurde es 2009 demagogisch präsentiert. Dafür wurde vom Ministerium eine neue Steuer für die Bevölkerung eingeführt, damit diese Unterkünfte auch bezahlt werden können. Nun bekamen die Opfer des Erdbebens die Realität präsentiert: Hunderttausende ohne Unterkünfte, die meisten konnten nicht einmal in Zelten übernachten.

(2) Die Kompradorenbourgeoisie ist die Handelsklasse in unterdrückten Ländern, welche den Interessen der imperialistischen Mächte dient und vollkommen von diesen abhängig ist. Sie ist jene Klasse, die zwischen imperialistischem Auslandskapital und nationaler (Feudal-)Ökonomie steht.

(3) Gründungsdokument der türkischen Republik von 1923, die vier Prinzipien beinhaltet: eine Nation, eine Fahne, ein Staat, eine Religion.



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