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Interview: „...es ist eine Krise des türkischen Staates.“

Inflation, Wirtschaftskrise und Klassenkämpfe in der Türkei


Die Rote Fahne hat ein Interview mit einem Vertreter des „Bundes werktätiger Migranten in Europa“ (AGEB) über die aktuelle wirtschaftliche Situation in der Türkei, die hohe Inflationsrate und die Entwicklung der Arbeiter- und Volksbewegung geführt.



Die Rote Fahne: Vielen Dank, dass ihr bereit seid dieses Interview mit der Zeitung Die Rote Fahne zu führen. Laut offiziellen Zahlen liegt die Inflationsrate in der Türkei mit August 2022 bei fast 80 Prozent. Was bedeutet das für die Arbeiter und das Volk in der Türkei? Wie hoch schätzt ihr die tatsächliche Inflationsrate, die ja um einiges über der offiziellen Rate liegen soll?


AGEB: Ich bedanke mich auch für das Interview. Man sagt, die Inflationsrate in der Türkei liege bei ungefähr 80 Prozent, aber tatsächlich, laut Angaben der Gewerkschaften, liegt sie zwischen 100 und 130 Prozent. Die hohe Inflationsrate bedeutet in der Türkei, dass viele Menschen in Armut und Arbeitslosigkeit leben und die Preise steigen - darunter leidet die gesamte Arbeiterklasse sowie andere Teile der Bevölkerung. Und die Inflationsrate steigt immer weiter, weil die Türkei momentan in einer tiefen Krise steckt. Es ist eine Krise des türkischen Staates, einer Halbkolonie der Imperialisten, besonders der USA und der EU. Diese dominieren die Türkei politisch, militärisch dominiert die NATO und wirtschaftlich der IWF und die Weltbank. Die weltweite Krise die sich verschärft, hat eine sehr große Auswirkung auf halbkoloniale Länder. Die Türkei trifft die Krise besonders hart, weil die Herrschenden in den letzten Jahren und Jahrzehnten das Land ausverkauft haben.


Die Rote Fahne: Es gibt unterschiedliche Erklärungen zur Inflation, aktuell wird der Ukraine-Krieg als Ursache dafür in den Vordergrund geschoben. Was ist euer Standpunkt zu den Ursachen der aktuellen Teuerungen?


AGEB: Die hohe Inflationsrate widerspiegelt eine Krise. Die herrschenden Klassen gewinnen und die Arbeiter und die breiten Massen leiden darunter, werden immer ärmer und müssen mehr einstecken. Die täglichen Kosten für die Bevölkerung sind hoch, die Löhne bleiben aber gleich, was bedeutet, dass die Kaufkraft sinkt und sich die breiten Massen immer weniger leisten können. Das sehen wir derzeit auf der ganzen Welt, nur die Türkei betrifft es gerade besonders.


Die Rote Fahne: Die Inflation in der Türkei ist verglichen mit vielen anderen Ländern besonders hoch. Wie beeinflusst die Dollarbindung der Lira die Inflationsrate, bzw. welche Rolle spielt die Inflation im Imperialismus?


AGEB: Die Türkei ist abhängig von Imperialismus. Sobald es in den imperialistischen Ländern eine Krise gibt, transferieren sie es auf die Halbkolonien. Das sehen wir beispielsweise derzeit in der Türkei. Es gibt fast keine Produktion mehr in der Türkei. Jeden Tag gibt es Meldungen über Selbstmorde weil sich immer mehr Menschen nicht mehr ernähren können, viele verlassen auch das Land.


Die Rote Fahne: Besonders seit 2021 verschärfen sich die Klassenkämpfe in der Türkei wieder zunehmend, fast täglich hört man von Arbeitskämpfen und Streiks. Wie sind diese einzuschätzen, welche Kräfte spielen dabei eine führende Rolle?


AGEB: Der Klassenkampf verschärft sich in der Türkei. Seit zwei Jahren ist die Arbeiterbewegung sehr groß, überall gibt es Streiks, Besetzungen, Kämpfe und Widerstand. Das Problem bei diesen Bewegungen ist, dass diese nicht einheitlich sind, dass es kein einheitliches Zentrum gibt. Das macht es einfacher für die gelben Gewerkschaften die Bewegungen zu manipulieren. Eine Methode die dabei zur Besänftigung des Widerstandes angewendet wird, ist der starke Fokus auf Verhandlungen. Es gibt aber auch revolutionäre Gewerkschaften, die versuchen die Klassenkämpfe zu entwickeln. Ein Beispiel dafür ist bei Tuzla Deri[1], wo der Klassenkampf vom revolutionären Standpunkt des Marxismus-Leninismus-Maoismus aus geführt wird. Die DİSK und die TÜRK-İŞ sind Gewerkschaften der Sozialpartnerschaft, die auf die Zusammenarbeit mit den Kapitalisten aufbauen. Statt die Kämpfe zu entwickeln, verkaufen sie Streiks, versuchen die Arbeiterklasse zu beruhigen und von den Kapitalisten abhängig zu machen.


Die Rote Fahne: Was sind Beispiele von Forderungen und Ziele dieser Kämpfe?


AGEB: In den meisten Fällen richten sich die Forderungen gegen die Auswirkungen der Wirtschaftskrise, wo die Löhne fallen, das Einkommen sinkt und somit die Kaufkraft abnimmt. Die Arbeiter wollen menschenwürdig leben, einen vernünftigen Lohn erhalten, und die Kapitalisten wollen das nicht. Die Forderungen umfassen Lohnerhöhungen, Arbeitszeitverkürzung sowie ein gesichertes und besseres Leben. Werden die Kämpfe und Anliegen der Arbeiter politisiert, dann organisieren sich die Arbeiter auch gegen den herrschenden Staatsapparat, und ihr Kampf wird von einem wirtschaftlichen zu einem politischen Kampf. Er erreicht also eine neues Niveau, am Anfang sind es wirtschaftliche Forderungen, dann werden sie mit der Zeit politisch. In der Türkei gibt es in vielen Betrieben keine Gewerkschaften, weshalb beispielsweise eine wichtige politische Forderung die eigenständige Organisierung der Arbeiter ist, der Aufbau von Betriebsräten. Am Ende ist es das Ziel, eine demokratisch-sozialistische Türkei zu errichten. Heute steht die Entwicklung des gemeinsamen Kampfes der Arbeiter im Vordergrund, was eine Voraussetzung ist um weiterführende Ziele erreichen zu können. Es gibt einen speziellen Fall bei Tuzla in Derisch, im Textilbereich, wo es viele Streiks gibt. Viele Beschäftigte in dieser Fabrik waren vorher AKP[2]-Anhänger. Sie erheben jedoch gleichzeitig ihre Forderungen als Arbeiter und sehen, dass diese von den Kapitalisten und der Regierung nicht erfüllt werden. Wenn sie dann in Kontakt mit Organisationen kommen die wirklich auf Seiten der Arbeiter stehen, wie der Revolutionäre Demokratische Gewerkschaftsbund (DDSB), dann machen sie gute Erfahrungen und sie erhöhen den Zusammenschluss der Arbeiter im Textilbereich.


Die Rote Fahne: Die sich noch weiter vertiefende allgemeine Krise des Kapitalismus bringt in vielen Ländern ein neues Ausmaß an Kämpfen mit sich, wie wir es schon seit einigen Jahren nicht mehr beobachten konnten. Das bedeutet gleichzeitig neue Aufgaben und auch Möglichkeiten für revolutionäre und demokratische Kräfte. Welche Aufgaben seht ihr hier im gegenwärtigen Moment in der Türkei?


AGEB: Der letzte breite Aufstand war Gezi[3] im Jahr 2013, wo Millionen auf die Straße gegangen sind, das hat es sonst fast noch nie gegeben. Die AKP ist sehr hart gegen diese Bewegung vorgegangen, gegen Revolutionäre, Demokraten und auch gegen die breite Masse. Dann hat die Regierung einen gefälschten Putsch inszeniert, wodurch sich die Arbeiter und breiten Masse zurückgezogen haben und sich die Lage wieder beruhigt hat. Seit zwei Jahren gehen die breiten Massen aber weltweit wieder vermehrt auf die Straße, wie in Sri Lanka, Griechenland, Mazedonien, etc. Und auch in der Türkei gibt es wieder viel mehr Widerstand, Arbeiter, Jugendliche oder Frauen tragen ihren Protest wieder verstärkt auf der Straße. Der türkische Staat greift sehr hart durch – es ist ein faschistischer Staat gegen Kurden und gegen das Volk. Hunderttausende Menschen sind verhaftet worden.


Dieser steigende Druck, dass das Volk, die breiten Massen auf die Straße gehen, wird sich erhöhen, es wird noch mehr Widerstände in der Türkei geben. Die Erfahrung der letzten Jahre zeigt, und das haben wir auch bei Gezi gesehen, wenn die Massen auf Straße gehen ist das gut, aber wenn sie keine einheitliche Orientierung erlangen und sich keine revolutionäre Führung entwickelt, dann beruhigt es sich nach gewisser Zeit wieder. Das wichtigste ist, dass sich die Revolutionäre und die breiten Masse organisieren und ihren gemeinsamen Kampf gegen den herrschenden Staat lenken. Derzeit erleben wir eine gefährliche Situation, in welcher die Fraktionen der herrschenden Klassen (besonders die AKP, aber auch die CHP[4], etc.) ihr Gesicht verloren haben und nach Wegen suchen, wie sie ihre Interessen weiterhin durchsetzen können. Es ist eine wichtige Aufgabe der revolutionären Kräften die Massen zu organisieren und zu verhindern, dass sie in dieser Situation von den Herrschenden gegeneinander ausgespielt werden können.


Die Rote Fahne: Erdogan hat ein Veto gegen den NATO Beitritt von Finnland und Schweden eingelegt. Was ist die derzeitige Rolle der Türkei für die NATO und welche Widersprüche gibt es hier zwischen den Fraktionen der herrschenden Klasse?


AGEB: Die Türkei ist ein halbkoloniales Land, das durch den Imperialismus unterdrückt wird. Die Herrschenden in der Türkei können sich soweit bewegen, wie es die USA und die westlichen Imperialisten erlauben. Momentan entwickelt sich eine Krise auf der Welt, welche durch die zunehmenden Rivalitäten zwischen den Imperialisten verstärkt wird, und diese Situation versucht die Türkei ausnutzen. In Wirklichkeit können sie das aber nicht, das Veto der Türkei war nur ein Spiel. Finnland und Schweden haben die Forderungen der Türkei nach politischen Auslieferungen nicht akzeptiert, weshalb diese Forderung auch nicht in das Abkommen aufgenommen worden ist. Das Veto sollte vor allem propagandistische Zwecke im Sinne der türkischen Regierung erfüllen. Erdogan ist ein pragmatischer Mensch, er versucht zwar Widersprüche für sich zu nutzen, aber am Ende richtet sich seine Politik nach den Interessen der Imperialisten. Die Türkei ist für die NATO wichtig, weil sie ein sehr starkes Heer hat, welches in der Region eingesetzt werden kann wo die NATO es braucht. Deshalb werden die USA die Türkei nicht fallen lassen, aber sie werden es der türkischen Regierung auch nicht erlauben zu weit zu gehen. Die Türkei ist von der NATO dazu autorisiert, dass sie gegen die Kommunisten losschlägt, die kurdischen Autonomie beseitigt und andere Minderheiten mit militärischen Mitteln unterdrückt. Einen besonderen Stellenwert hat dabei aber die Vernichtung der Selbstständigkeit der kurdischen Gebiete, ihrer Befreiungsarmee und die Besiedelung der Gebiete mit nationalistischen Kräften im Bund mit reaktionären Kräfte wie der FSA[5].


Alle Fraktionen der Herrschenden in der Türkei sind sich darin einig, dass sie ein NATO-Mitglied bleiben soll, auch die CHP. In der Türkei waren die herrschenden Klassen immer westlich orientiert, für den US-Imperialismus und die Imperialisten der EU. Es gibt auch Kräfte die sich für Russland und China positionieren, aber diese sind nicht stark. Kritik an USA und EU wird nur von den revolutionären Kräften und Organisationen geleistet. Die NATO hat deshalb auch seit den 1980er Jahren durchgehend konterrevolutionäre Organisationen unterstützt um diese Kritik zu unterbinden. Man kann also nicht sagen, dass es zwischen den Herrschenden in der Türkei grundsätzliche Widersprüche in dieser Frage gibt.


Die Rote Fahne: Nochmals vielen Dank für das Interview!




[1]Lederindustrie in Tuzla [2]„Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung“ (AKP) ist die führende Regierungspartei in der Türkei. [3]Die Gezi Proteste beschreiben eine Welle an Volksprotesten in Istanbul im Jahr 2013. [4]„Republikanische Volkspartei“ (CHP)

[5]Freie Syrische Armee (FSA) – eine reaktionäre Söldnertruppe die im Syrienkrieg besonders für die Interessen der USA aufgebaut wurde.


Bildquelle: AGEB - Bund werktätiger Migranten in Europa

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