ORF online Chefredakteur Gerald Heidegger spricht von „entgleister Debatte“ und „Ursachenverdrehung“(1), andere von der „Entschlossenheit und Geschlossenheit Europas“ (2). Worum es geht? Der „Emma-Brief“, eine Initiative deutscher Intellektueller und Kunstschaffenden gegen Waffenlieferungen Deutschlands an die Ukraine.
Das deutsche Magazin „Emma“ von Alice Schwarzer startete Anfang Mai die Initiative eines offenen Briefes an den deutschen Bundeskanzler, mit dem zentralen Anliegen, die Waffenlieferungen an die Ukraine zu stoppen. Der Brief wurde zunächst von 200 Menschen des öffentlichen Lebens, Intellektuelle, Künstler, Schauspieler, Kabarettisten etc. gezeichnet. Unter ihnen auch der in Österreich sehr bekannte Kabarettist Gerhard Polt und der Liedermacher Reinhard Mey. Online fand der offene Brief als Petition bereits 275.000 UnterstützerInnen (Stand 14.5.22). Durchaus also eine gewisse Repräsentation der Meinungen der Bevölkerung in Deutschland, die laut einer Umfrage zu jeweils ca. 45% diese Waffenlieferungen ablehne bzw. befürworte.
Alice Schwarzer und ihr Magazin ist nun zu Recht keine unumstrittene Sache, begibt sie sich nur allzu oft auf die Seite der herrschenden Eliten und verteidigt deren Politik direkt oder indirekt. Fakt ist jedenfalls, dass sich dieser Brief sehr auf eine Frage beschränkt: die Waffenlieferungen Deutschlands an die Ukraine einzustellen, mit dem dringenden Appell, damit zu einem Waffenstillstand beizutragen. Es kommt zudem die Angst vor einer weiteren Eskalation, wie auch vor atomaren Auseinandersetzungen zum Ausdruck. Der Brief gibt sicherlich Stoff für Debatte und Kritik, bringt aber zunächst sehr gerechtfertigte Bedürfnisse, nach Frieden, Entmilitarisierung und Deeskalation zum Ausdruck.
Der Reaktion aber in den Mainstream-Medien zu urteilen, schoss der „Emma Brief“ weit über dieses Ziel hinaus. Schlagwörter wie „entgleiste Debatte“, „Ursachenverdrehung“, „ Appeasement-Politik“ finden sich im ORF dazu. In Deutschland schlug er noch weitere Wellen und rasch gab es einen Gegenbrief unter dem Titel „Ein anderer offener Brief: Die Sache der Ukraine ist auch unsere Sache!“.
Gerald Heidegger kritisiert am „Emma-Brief“ ein „hohes Maß an Selbstgewissheit bei gleichzeitiger historischer Vergessenheit“ (3), mit dem Verweis auf die Appeasement-Politik, welche laut ihm gerade zwischen 2014 und 2021 seinen Effekt erwiesen hätte. Damit suggeriert er, dass „der Westen“ bereits früher intervenieren hätte müssen. Eine äußerst fragliche Haltung, war es doch hauptsächlich durch „den Westen“, durch die USA, EU und NATO, dass es bereits 2014 zum Krieg und völkerrechtswidrigen Massakern in der (Ost-)Ukraine kam. Er kritisiert ferner, dass vom „Thema Appeasement zwischen 1933 und 1939“ geschwiegen wird. Im „Emma Brief“ ist dabei lediglich undefiniert von „historischer Verantwortung“ die Rede. Keiner thematisiert die Geschichte im Bezug auf Aufrüstung unter deutscher Vorherrschaft, trotz der aktuellen breit thematisierten Befreiung vom Nazi-Faschismus. Was lernen wir aus der Geschichte, wenn heute vollkommen unkritisch Militarisierung und Aufrüstung hingenommen, sogar noch als gut und friendensbringend dargestellt werden, noch dazu unter Vorzeichen der Interessen der herrschenden Eliten Deutschlands? Offensichtlich ist dies keine Thema in unserer heutigen „Demokratie“, sich mit solchen „Nebenfragen“ wie diesen zu befassen - im Gegenteil sorgt es für einen Haufen Wirbel!
Die herrschenden Eliten und ihre Medien, diverse Handlanger in ihren Redaktionen, spielen sich als selbsternannte Retter der Ukraine, wie auch deren Verteidiger auf. Wer stellt aber einmal ernsthaft die Frage nach Unabhängigkeit und Souveränität dieses Landes? Es gehe um Waffenlieferungen zur „Sicherung des Friedens“ zur „Verteidigung der Ukraine“ und zur „Herstellung ihrer Souveränität“. Gleichzeitig bedeuten jedoch Waffenlieferungen die Stärkung jener Kriegspartei, die unter der Kontrolle von USA und NATO die Ukraine zugunsten des „Westens“ umgestalten sollte, durch Privatisierungen, Massaker an kritischen Menschen und Terror gegen die Bevölkerung. Das ist definitiv nicht der Weg in die Unabhängigkeit und keine Sicherungen der Souveränität, vielmehr ist dies die Sicherung des Einflusses westlicher kapitalistischer Eliten.
In Deutschland löste der Emma Brief ebenso großes Aufsehen und eine sofortige Antwort ebenso vieler Persönlichkeiten aus dem öffentlichen Leben aus, zahlreiche Zeitungsmeldungen und öffentliche Angriffe und Beleidigungen gegen die Zeichner. Noch vor nicht allzu langer Zeit waren die Herrschenden noch mit direkten Angriffen gegen Bundeswehrfahrzeuge und Fabriken der Rüstungsindustrie konfrontiert. Mag sein, dass ihnen dies unangenehm im Nacken sitzt und die Debatte rund um Waffenproduktion und Lieferungen zusätzlich befeuert. Damals hatten Aktivisten der sogenannten „Militanten Gruppe“ unter anderem Panzer der deutschen Bundeswehr angezündet, nach der Losung: „Was in Deutschland brennt, kann in Afghanistan keinen Schaden mehr anrichten“. Richtig bekannt wurden diese Aktionen da ein jahrelanger Prozess und eine Verhaftungs- und Durchsuchungswelle folgte, die einer Hexenjagd gleichkam. Später kam es durch unterschiedliche Gruppen und Organisationen zu weiteren Aktionen gegen die Beteiligung Deutschland an ungerechten Kriegen. Beispielsweise wurden Gleise die für Waffentransporte benötigt wurden, abgetragen, um so die Lieferungen zu stoppen.
Der „Emma-Brief“ jedenfalls geht nicht so weit, zur Aktion aufzurufen, er richtet sich mit einer dringenden Bitte an den Bundeskanzler. Er geht auch nicht so weit für eine antiimperialistische Friedensbewegung einzustehen, sondern bleibt im Rahmen des durchaus akzeptierbaren „Pazifismus“. Das heißt ein „Pazifismus“ der sich für ein Ende der Kriegshandlungen ausspricht, jedoch nicht die Frage des unterdrückten Volkes in der Ukraine, der Aufteilung der Ukraine unter den Imperialisten aufgreift. In der Arbeiterbewegung, besonders in der kommunistischen Bewegung, wurde seit jeher die Frage danach gestellt, wem dieser oder jener Krieg dient. Handelt es sich um nationale Befreiungskriege, Bürgerkriege gegen Ausbeuter, Partisanenkriege, Volkskriege… oder im Gegensatz dazu um einen ungerechten, imperialistische Raubkrieg?
In der Debatte rund um den „Emma-Brief“ zeigen sich zwei Sachen sehr deutlich: Erstens, ein demokratischer Diskurs der nur ein Stück weit von den Plänen der herrschenden Eliten abweicht, wird in der Luft zerfetzt. Aufrüstung, Militarisierung und Kriegshetze werden als scheinbar unhinterfragbare Paradigmen unserer Zeit dargestellt. Zweitens, weder der „Emma-Brief“, noch die Antworten der Gegner stellen die Frage nach der Initiative der Bevölkerung, nach Emanzipation und Unabhängigkeit ganzer Länder. Eine neue Friedensbewegung heute muss diesen Fragen natürlich auf den Grund gehen und den Krieggelüsten der herrschenden Eliten den festen Zusammenschluss „von unten“ entgegenstellen. Einen Zusammenschluss demokratisch, antiimperialistisch und antifaschistisch gesinnter Menschen, auch all jener die nach einem anhaltenden Frieden streben, denn dieser wird nicht von den Herrschenden gegeben, sondern kann nur in Auseinandersetzung und Kampf durch die Völker selbst errungen werden. Der „Emma-Brief“ zeigt uns also einerseits den steigenden Druck Militarisierung und Kriegsvorbereitung als „Notwendigkeit“ zu erachten, andererseits auch, dass es nicht egal ist welcher Frieden angestrebt wird: Frieden und Souveränität für die unterdrückten Völker, oder ein „Frieden“ zugunsten des einen oder anderen Imperialisten.
(1) Orf.at: Entgleiste Debatte. Deutschland und der „Emma“-Brief. 5.5.2022
(2) Ein anderer offener Brief: Die Sache der Ukraine ist auch unsere Sache!
Bildquelle: Panzer, fotshot, Pixabay freie kommerzielle Nutzung
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